Jetzt oder nie!

Ein gekochtes Ei wird nie wieder ein rohes.
Es gibt auch Kipp-Punkte beim Klima: manche Grenzüberschreitungen sind unumkehrbar. Ein Weckruf, enstanden aus einem Gedankenaustausch mit Dr. Thomas Lanz, Diplom- Biologe und Mitglied der Klima Aktionsgruppe Hitzacker.

Warum leben wir nicht längst im Klima-Notstand? Die wissenschaftlichen
Erkenntnisse sind eindeutig, die Warnungen der Wissenschaftler
ebenso: Wir Menschen sind dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Und das offenen Auges. Denn wenn unsere Gesellschaft an etwas
nicht leidet, so ist das ein Mangel an Information.
Wir sind informiert. Wir wissen, was los ist. Aber wir ziehen die Konsequenzen nicht, zumindest nicht genügend.

In den letzten 10 000 Jahren hatten wir auf unserem“ Planeten stabile klimatische Verhältnisse, die es ermöglichten, einen ungeheuren Zuwachs
an Verständnis für die gesamte Umwelt zu gewinnen. Die Wissenschaft ist in alle möglichen Bereiche vorgedrungen und ermöglicht ein weitestgehend sicheres Leben.

Bei der Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden allerdings nicht alle Auswirkungen auf unsere Umwelt beachtet, sodaß
wir inzwischen feststellen müssen, daß wir bereits sechs von neun „planetaren Grenzen“ überschritten haben. „Planetare Grenzen“ heißt, daß
deren Überschreiten eine Gefahr fürs menschliche Überleben auf diesem Planeten darstellt. Die planetaren Grenzen, die wir bereits überschritten
haben, betreffen die massiv schrumpfende Artenvielfalt und die Biodiversität, die etwa in Lateinamerika um 94 Prozent (WWF)
zurückgegangen ist, die Verfügbarkeit von Süßwasser, die Landnutzung durch Zerstörung von Natur, den Eintrag von künstlichem Nitrat und
Phosphat (Überdüngung und in der Folge, zum Beispiel, biologisch tote Bereiche in der Ostsee), den Eintrag neuartiger Substanzen (Insektizide,
Herbizide, Plastik etc., unter anderem verantwortlich für das Insektensterben) und eben auch der globalen Erhitzung durch Mißbrauch der Erdatmosphäre als Müllhalde für Treibhausgase
(CO2, Methan und Lachgas). Und: Diese planetaren Grenzen und ihr Überschreiten stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern beeinflussen
und verstärken einander gegenseitig.

Der Wissensstand zur planetaren Grenze beim Klimawandel (globale Erhitzung) ist überwältigend. Jahrzehnte alte Prognosen sind längst
eingetreten wie vorhergesagt, und wir sind jetzt in einem Stadium angekommen, bei dem in den kommenden fünf bis zehn Jahren so oder so die Entscheidung fällt, wie sich das Klima und die sich daraus ergebenden Veränderungen für die kommenden Jahrhunderte entwickeln werden (IPCC). Das heißt nichts anderes: Jetzt entscheidet sich, was
für eine Welt wir unseren Kindern und Enkeln und auch den anderen Lebewesen überlassen.

Unbegreifbar ist, warum diese Erkenntnis von den führenden Köpfen in Politik und Wirtschaft nicht als Tagesordnungspunkt 1 auf die Agenda
gesetzt und permanent kommuniziert wird, um als Leitlinie für jede politische und wirtschaftliche Entscheidung übergeordnet zu dienen.

Die globale Erhitzung hat – bereits jetzt spürbar dramatische Veränderungen des weltweiten Klimas zur Folge, obwohl wir erst am Anfang sind: beim Abschmelzen der kilometerhohen
Eismassen auf Grönlöand und in der Antarktis, zum Beispiel, wird der Meeresspiegel um bis zu 65 Meter ansteigen, die Klimazonen
werden sich großflächig verschieben, der Golfstrom als Teil der atlantischen Umwälzströmung wird sich abschwächen oder sogar komplett
versiegen. Es werden sich tödliche Hitzezonen rund um den Äquator ausbreiten, wovon bis in nur 40 bis 50 Jahren etwa drei Milliarden
Menschen betroffen sein werden.

Verursacht wird die globale Erhitzung in erster Linie durch die Verbrennung fossiler Energie (Kohle, Erdöl und Erdgas), die uns in der Vergangenheit im globalen Norden ein unglaubliches wirtschaftliches
Wachstum beschert hat. Doch bei der Förderung, Nutzung und Verbrennung fossiler Energien entstehen Treibhausgase. Diese haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in der Atmosphäre angesammelt,
da sie in diesem Ausmaß nicht mehr von den Pflanzen, von den weitgehend trockengelegten Mooren und dem Ozean aufgenommen
und gebunden werden können. Das passende Bild dazu ist die Badewanne, in die wir permanent Wasser laufen lassen: Sie läuft über.

Die globale Erwärmung erhöht das Risiko, Kipp-Punkte ganzer Erdsysteme zu überschreiten. Diese Erdsysteme sind wesentlich beteiligt
an einer für uns lebenswichtigen stabilen klimatischen Umwelt. Beispiele hierfür sind die globalen Meeresströmungen, die Permafrostböden, der Amazonas-Regenwald, die nordischen Wälder oder auch die Korallenriffe.

Was ein Kipp-Punkt ist, läßt sich gut am Hühnerei erklären. Es besteht, wie unser Gehirn, zu einem großen Teil aus Protein (Eiweiß). Wenn wir das Hühnerei langsam erwärmen, passiert erst mal gar nichts, es bleibt flüssig. Ab einer bestimmten Temperatur (über 60 °C) wandelt sich die flüssige Form in eine feste. Und dieser Vorgang ist unumkehrbar: Ein gekochtes Ei kann nie wieder ein rohes werden. Beim Gehirn liegt dieser Kipp-Punkt bei etwa 42 °C (weshalb alte Quecksilber-Thermometer bei 42 °C enden).

„Alles Quatsch!“, tönt es, nicht nur in Deutschland, besonders von Rechtspopulisten, „es gab schon immer mal zu heiße Sommer und Trokkenheit und mal viel Regen!“ Da auch Rechtspopulisten nicht automatisch dumm sind, muß es Gründe geben, weshalb der menschengemachte Klimawandel von ihnen geleugnet wird. Zum
einen leben wir in „postfaktischen“ Zeiten (man kann mit „alternativen Fakten“ amerikanischer Präsident werden). Das heißt: Fakten, wissenschaftliche
Ergebnisse, die zum eigenen Weltbild passen, werden gern übernommen, ebenso technische Errungenschaften. Wissenschaftliche Erkenntnisse dagegen, die nicht in mein Denken und meine Ideologie passen, die mich verunsichern oder sogar zweifeln lassen, die Veränderungen erfordern, werden geleugnet. Auch ist die heutige Welt komplex. Und je komplexer
sie wird, desto größer wird die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Genau die bieten Populisten an – gerade auch in Deutschland, wo etwa
das Thema Migration einen abnorm hohen Stellenwert in der politischen Auseinandersetzung einnimmt und mehr ablenkt als zur Bewältigung des eigentlichen Problems, der Überschreitung der planetaren Grenzen, etwas beizutragen – obwohl alle Wirtschaftswissenschaftler sagen, daß wir Einwanderung benötigen (etwa 400 000 Menschen pro Jahr), um unser wirtschaftliches System zu stabilisieren.

Ein „Weiter so“ in Sachen Klima, wie es von Populisten und vielen „Konservativen“ gefordert wird, führt zwangsläufig in den Abgrund. Schon
jetzt sind die unsägliche Ungleichverteilung des Reichtums weltweit und selbst in den „reichen“ Ländern und die fast schon religiöse Verklebung
von Konsum und Lebensglück schwer bis gar nicht erträglich. Unser derzeitiges Wirtschaftssystem beruht auf einer grenzenlosen Ausbeutung
von Natur und Mensch. Da aber die natürlichen Ressourcen des Planeten begrenzt sind, stößt dieses System ganz automatisch an seine Grenzen und muß zusammenbrechen. Wir haben es jetzt noch in der Hand, planvoll und menschenwürdig gegenzusteuern.

Was ist zu tun, was ist erforderlich? An allererster Stelle und mit oberster
Priorität muß der schnelle Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen her; dazu der Ausbau regenerativer Energien (Sonne, Wind, Wasser) zur Bereitstellung von Wärme und Strom für lebensnotwendige Strukturen. Und die Landwirtschaft muß naturschützend werden, ohne Gifte, Humusvernichtung und tierwohlmißachtende und umweltschädliche Tierhaltung. Wir machen uns den Planeten nicht nur „untertan“, wir fressen ihn auch im wahrsten Sinne des Wortes auf: Etwa 80 Milliarden Landtiere und bis zu drei Billionen Fische und Wassertiere werden Jahr für Jahr
weltweit geschlachtet. Wir müssen weg vom fossil betriebenen Verkehr, überhaupt weniger Individualverkehr, dazu keine weitere Bodenversiegelung, umweltfreundliches Reisen, in allen Bereichen mehr Suffizienz, das heißt weniger aufwendiges Leben in allen Bereichen und
ein respektvoller Umgang mit der natürlichen Umgebung, Schutz von Wald- und Wassergebieten vor menschlichen Eingriffen.

Wie können wir das erreichen? Warten wir auf das Eintreten weiterer Horrorszenarien, wie wir sie ja teilweise schon erlebt haben und erleben
(Flut im Ahrtal, im libyschen Darna, in Pakistan, Hungerkrise am Horn von Afrika, Brände und Wassermangel in Südeuropa, verheerende
Brände in Kanada). Wann sind wir bereit, gemeinsam die nötigen Schritte zu gehen, um die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu beenden?

Es muß nicht nur die „Hardware“ verändert werden. Wir müssen auch an die „Software“ ran. Wir müssen neue Bilder schaffen, Bilder, die Visionen erzeugen für einen lebenswerte Zukunft, die sich nicht nur am unersättlichen materiellen Mehrmehrmehr orientiert, sondern endlich
Erfüllung im Weniger-ist-Mehr findet.

Der Kampf gegen die Erderhitzung wird bestenfalls ein kurzes Hinausschieben sein, wenn er bloß der Versuch bleibt, unser menschen- und naturfeindliches Wirtschaftssystem nur grün zu lackieren. Es muß den Menschen auch ehrlicherweise gesagt werden, daß gewaltige Veränderungen (gerade auch in den Werten!) vonnöten sind.

Es gibt viele Gruppen, die kreativ an neuen neuen Bildern und Visionen arbeiten, wie eine lebenswerte Zukunft aussehen kann und wie der Weg dorthin aussehen könnte. Ja, es sind schon sehr viele! Kontakt für alle, die mitmachen wollen:
Klimaaktion.Hitzacker@posteo.de
und/oder
buero@bi-luechow-dannenberg.de