Katharina Körting über Einsamkeit und wie die Hatz nach Profit sie produziert
Es gibt Demokratiebarometer, Glücksbarometer, Stimmungsbarometer, Inflationsbarometer, Beziehungsbarometer. Und nun halt auch Einsamkeitsbarometer. Klingt wie jede scheinbar aufgeklärte Dummheit des gesunden Menschenverstandes (Adorno) unangreifbar objektiv. Als wäre Einsamkeit meßbar, sodann korrigierbar, nach oben oder unten, man muß nur ein bißchen drehen, damit die Zahlen stimmen. Aber welche Zahlen? Tragen nicht gerade sie zur Verdinglichung und Entfremdung bei? Ist nicht die Fixierung aufs Messen und Zählen eine der Ursachen für Vereinsamung? Weil nicht der ganze Mensch, das Tier, der Baum, das Miteinander zählt, sondern Verwertbarkeit? Alles wird zur Ressource (es gibt das Wort Humankapital), wer keine Leistung bringt, zählt nicht, und wer nicht zählt, wird einsam. Versagen ist das Einsamste, was es gibt.
Erstmals liege eine umfassende Analyse des Einsamkeitserlebens in Deutschland vor, prahlt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), die mitunter auch ein wenig einsam wirkt, dies jedoch, wie alle Einsamen, niemals zugeben würde, sondern effizient und überlegen dagegen anlächelt. Einsam darf man immer nur gewesen sein, nach einer schlechten Phase, erst wenn die Einsamkeitsbelastung erfolgreich überwunden ist, darf man davon sprechen, wenn man die Strategie gegen Einsamkeit gefunden hat und bestenfalls das Kompetenznetz Einsamkeit kennt. Und weil Aktion immer gut ist, gibt es ab dem 17. Juni eine Aktionswoche mit dem lieblichen Namen Gemeinsam aus der Einsamkeit.
Statt immer mehr Zahlen und Psychogerede wünscht man sich den guten alten dialektischen Materialismus zurück, der war wenigstens ehrlich, und man muß dafür auch keine Uni von innen gesehen haben, muß nur gucken, was ist: erst kommt das Fressen, dann die Moral, und den Widerspruch dazwischen aushalten. Längst breiten sich technizistisches Denken und Vernaturwissenschaftlichung der Welt ähnlich unaufhaltsam aus wie die Einsamkeit, die man Volkskrankheit nennt, ja, Epidemie. Bei der Bekämpfung hinke Deutschland hinterher, heißt es. Laut Einsamkeitsbarometer sind junge Menschen, Alleinerziehende und Alte als „Risikogruppen“ besonders betroffen. Doch mit der Einsamkeit ist es wie mit anderen gesellschaftlich bedingten seelischen Versehrtheiten: Sie kommt nicht von allein, aber jede Einzelne meint, allein dafür verantwortlich zu sein. Als müsse sie sich einfach nur ein bißchen mehr Mühe bei der Bekämpfung der Einsamkeit geben. Dabei ist Einsamkeit keine durch seelischsoziale Fitness vermeidbare Krankheit, sondern eine Falle, die sich anfangs wie eine Droge als Problemlösung verkleidet und erst dann als Sackgasse outet, wenn man längst in ihr feststeckt. Anders als modische Störungen wie ADHS oder fröhlicher Alkoholismus ist einsam nichts, mit dem man hausieren geht erstens, weil man die Kraft gar nicht hätte, zweitens, weil man sich schämt und drittens, weil man gar nicht wüßte, bei wem.
Das Familienministerium erweckt den Eindruck, man könne effektiv gegen Einsamkeit handeln, ohne radikal nach den Ursachen zu fragen. Müßte man nicht als erstes das Vereinsamung produzierende und zugleich von ihr zehrende Internet abschalten? Dann den Kapitalismus verbieten mit seinem zerstörerischen Erfolgsdruck, seinem als Wettbewerb verbrämten Kampf aller gegen alle, seiner in alle Gehirnwindungen eingeschraubten Angst vorm Versagen, Hyperselbstoptimierung und galoppierenden Ausbeutung, als könnte man Lebewesen wie Maschinen tunen, einstellen, reparieren, benutzen, durch KI ersetzen und auf den Müll werfen?
Womöglich ist Einsamkeit, frei nach Brecht, die Antwort auf Verhältnisse, die nicht gemeinsam sind, sondern vereinzelnd. Oder warum zieht sich rund ein Drittel der Menschen inein beziehungsvermeidendes, verschämt stilles Unglück zurück, in dem sie möglichst lange unauffällig weiterfunktionieren und zumindest äußerlich den Anforderungen anderer genügen, um nur ja nicht zu stören? Wohl kaum, weil es noch kein Einsamkeitsministerium gibt.