Wir haben Sorgen!

Klimakatastrophe, Migranten, die uns aus purer Lust und Dollerei überfluten, Menschen, die zu Millionen weltweit verhungern, obwohl es doch Supermärkte gibt, ein Krieg in Europa, bei dem die Überfallenen trotz Sahra Wagenknechts Appellen einfach nicht kapitulieren möchten – keine einfachen Zeiten. Und dann gibt es auch noch die wirklich existentiellen Probleme, denen Karl-Heinz Farni hier nachgeht

Manchmal, gar nicht so selten, auf jeden Fall, wenn ich am Abend zuvor mal wieder den Fernseher zu früh eingeschaltet hatte, um die „Tagesschau zu sehen und dabei in die Fänge der TVWerbung geraten bin, reißen mich zur Wolfsstunde tiefbohrende Fragen aus dem Schlaf und lassen mich nicht mehr zur Ruhe kommen: Verfügen meine Wimpern wirklich über genügend Volumen, haben meine Brauen hinreichend Füllkraft? Ist meine Gesichtshaut, besonders um die Lippen herum, und sind vor allem die Lippen selbst zumindest hinlänglich aufgepolstert? Und ganz bohrend: Wirkt meine Pigmentflecken-Überdeckung, das Anti-Taches? Sorgt es zusammen mit meinem Under Eye Brightener und der nude getönten Concealer-Creme für den erwünschten Wach-Effekt? Meine Augenbrauen korrigiere ich selbstverständlich täglich, manchmal zweimal. Und doch: Ich bin mir nicht mehr sicher; mein Herz rast vor Aufregung.
Nur ganz allmählich beruhige ich mich, schließlich habe ich die Nutri- Pearls vorschriftsmäßig angewendet und auch sonst alles Notwendige zum Erhalt meines, zugegeben, in die Jahre gekommenen Flairs getan. Wobei ich mich oftmals schwer damit tue, mich zwischen Puder und Concealer zu entscheiden – zur Not wende ich einfach beides an – meine dann kaschierten Augenringe danken es mir. Den Kollagen-Booster („“Bringe Glow in Deine Morgen-Routine!““) vergesse ich natürlich nie, und auch mein Anti-Aging-Programm (selbstverständlich das für die anspruchsvolle Haut und mit Sofort-Effekt) ebensowenig. Und Refining, Sculpting, Tanning? Logo! Dazu mindestens ein Mal pro Woche eine gründliche Dermabrasion, öfter mal ein Peeling und genügend Moisturizing – also eigentlich dürfte ich keinerlei Probleme haben. Und der wohlmeinenden Forderung von „L’Oréal Load your lashes!““ komme ich selbstredend immer wieder gern nach. Das ist schließlich „“Schutz, der sich meiner Silhouette anpaßt““.
Doch eine Sache läßt mich trotzdem nicht zur Ruhe kommen: „Ist meine Haarstruktur wirklich optimal?“ „„Sag’ grauen Haaren den Kampf an!““, fordert mich „“Alpecin Grey Attack““ auf, „“wasch das Grau einfach weg“!“ Da zögere ich, das macht mir angst, denn ist alles Grau weg – was bleibt dann noch? Zwar ist Glatze zur Zeit nicht wirklich unmodern, aber nicht jeder hat einen Schädel wie Bruce Willis oder Yul Brynner. Und überhaupt: Paßt das eigentlich zu meinem Streetstyle-Look?
Wie lebenswichtig es ist, was man auf dem Kopf hat, war deutlichst bei der vergangenen Fußball-Europameisterschaft zu sehen. Das Mindeste war der Fade, der an-, teils auch kantig rasierte Ansatz – erinnerte hin und wieder an das Kinderbuch vom kleinen Maulwurf „„Wer hat mir auf den Kopf gemacht?““. Oder diese vor jedem Spiel frisch geföhnte Prinz-Charming- Frise des Herrn Griezmann. Dazu Farben ohne Ende. Nur bei den Trainern lag die Glatze vorn. Immerhin pflegeleicht; im Gegensatz zu den zahlreichen Makramee-Arbeiten auf den Köpfen: Zöpfchen, Schwänzchen, an Norwegerpullover erinnernde Wellen- und Kurvenmuster. Kein Wunder, daß die Leibfriseure der betuchten Spieler als fast einzige Außenstehende ständigen Zugang zu den Mannschaften hatten. Ohne die haarigen Skulpturen auf den Köpfen wären die Kicker ganz gewiß weder in den Flow gekommen, noch hätten sie das Momentum auf ihrer Seite gehabt während ihrer Performance.

Dann plötzlich raubt mir etwas ganz anderes den Schlaf: weltweit sterben Tag für Tag 15 000 Kinder, weil sie nichts zu essen haben. 15 000 Kinder jeden Tag! Die Welternährungsorganisation hat sich vorgenommen, in 15 Jahren den Hunger weltweit zu besiegen. Jährliche Kosten dafür: 267 Milliarden Dollar. Astronomisch! Aber 89,7 Milliarden US-Dollar werden jährlich allein in den USA für Kosmetika ausgegeben, in China 58,3 Milliarden, in Deutschland 15,9 Milliarden Euro. Weltweit wird der Markt gegen Augenringe, Pigmentflecken und Falten für 2023 auf 375 Milliarden US-Dollar geschätzt. Prognose: ein Anstieg von 394 Milliarden US-Dollar 2024 auf 760 Milliarden US-Dollar im Jahr 2032.
Geld scheint also offenbar da zu sein. Und „Garnier““ (operativer Gewinn im ersten Halbjahr 2023: 4,26 Milliarden Euro), Teil des Marktführers „L’Oreal““, macht uns in seiner Werbung vor, wie’s geht. Da heißt es Abschminken!“. Im Clip zu sehen sind mit Kosmetika vollgeschmierte, unglücklich blickende Gesichter. Aber dann: Sie greifen zu „“Garnier Skin Naturals Augen-Make-up-Entferner 2 in 1, Waterproof““ und sehen so mit einem Wisch abgeschminkt – blitzartig fast wie richtige Menschen aus. Glücklich hauchen sie ins Mikrofon: „Meine Haut kann endlich wieder atmen!“