Der mit dem Bock tanzt

Sabine Henßen sprach mit Giselher Kühn, der seit 40 Jahren von und mit Schafen lebt.

Jungenhaft wirkt er, hat aufgegeben, die Locken zu bändigen, die fallen in die Stirn, den St.-Pauli-Pullover trägt er wie eine zweite Haut, niemand ahnt beim ersten Händedruck: Der Typ hat die 60 bereits überschritten. Fragt man ihn nach seinem Beruf, antwortet er: „Im Grunde ist mein Nebenjob Milchschafbauer, im Hauptjob kümmere ich mich um meinen Vater.“ Giselher Kühn, von allen Gisi genannt, echter Wendländer, in Ganse aufgewachsen, 62 Jahre alt, in Diahren lebend, ist gelernter Landwirt und pflegt das Understatement nicht aus Eitelkeit, sondern aus Überzeugung. Er ist keiner, der nach Komplimenten fischt. Der Vater, ehemaliger Realschullehrer, lebt im Nachbarort und ist auf seinen Sohn und einen Rollator angewiesen – er feierte im Januar seinen Hundertsten. Gute Gene also bei den Kühns.
Zu seiner Herde kam Giselher Kühn eher zufällig: Ende der 80er übernahm er die 39 ostfriesischen Milchschafe von seinem damaligen Kompagnon. Schnell wurde klar: Goldesel sind sie nicht, die Schafe, das große Geld steckt nicht drin in der Yoghurt- und Käse-Produktion. „Darum hat mir mein damaliger Partner die Herde auch übertragen. Wir hatten unterschiedliche Vorstellungen, er war ökonomisch orientiert, mir war von Anfang an meine Lebensqualität wichtiger.“
Und genau die scheinen sie zu bieten, die heute nur noch 18 sanften, hornlosen Wollknäuel, die eilen, schlendern, stapfen, sobald Gisi pfeift, jedes nach seiner Façon, jedes nach seinem Charakter. Alfons, der einzige Bock, schmust gern, ist zutraulich, doch unter all der Wolle lässt sich sein ausgeprägtes Rückgrat ertasten.
„“Er kann auch anders““, sagt Giselher. Und der Halter selbst? Ohnehin entspannt, werden seine Züge noch weicher neben seinen Mitarbeiterinnen, er kniet sich hin und ist auf Augenhöhe. Er wirkt, als trüge er seine Lokken vor allem aus Sympathie zu seinen Tieren.
„Habe viel Glück gehabt, war zur richtigen Zeit am richtigen Platz““, sagt er, als wäre es ihm ein wenig unangenehm. Glück? „“Ich war gerade in Diahren angekommen, ging abends auf das Sommerfest auf dem Dorfplatz mit meinen Schafbratwürstchen – und hatte am späten Abend all mein Grünland zusammengepachtet!““ Für einen gelungenen Start wichtig, denn: „“Ich war ein Bauer ohne Hof und ohne Land““, schildert er die Anfänge.
Er bezog einen schwer in die Jahre gekommenen Hof – ein Hufeisen Geviert ohne Grund. Dort lebte Mine, 1906 geboren, ehemalige Magd und mit lebenslangem Wohnrecht ausgestattet. Zu Anfang eine Zweck-WG. „Doch Mine war froh, dass sich wieder etwas tat auf dem Hof, dass Leben einzog und Tiere.““ Und Mine wurde wieder gebraucht. Den Hof setzte er mit Hilfe eines Freundes nach und nach wieder in Stand. Aus einer Durchfahrtsscheune wurde der Winterstall, eine Käseküche, gefliest vom Boden bis zur Decke, wurde eingerichtet. „“Die Schafe, die Schafmilch, waren mein Einkommen.““ Und sind es bis heute. Nur, dass zu den herkömmlichen Schafmilchprodukten etwas hinzukam, das auch wieder auf einen glücklichen Zufall fußte: Likör! „“Eine Nachbarin mit kleiner Milchschafherde stellte ihn her, und wir kamen ins Gespräch.““ Zuerst wegen der Schafe, dann wegen des 15-prozentigen Stoffs. Sie wollte aussteigen aus der Likörproduktion, er einsteigen, man wurde sich handelseinig, das Geheimrezept tauschte für 150 Mark die Besitzer. „„Ich wollte einen neuen Namen, er sollte an die Region erinnern. Gemeinsam mit einem Freund, der sich um die Marketingschiene kümmerte, entstand White Wendish’“.“
Heute ist der Likör allseits bekannt und ein Renner, war aber anfangs kein Selbstgänger. „Unser erster Einsatz auf dem Lüchower Stadtfest: ein totaler Flop! Wir hielten ein selbstgemaltes Bild hoch mit der Aufschrift: Schafsmilch-Likör. Die Leute drehten sich angewidert weg.““ Schaf und Likör? Unvorstellbar! Er schmunzelt, lächelt über seine ersten Schritte, White Wendish unters Volk zu bringen, und über sich selbst. „“Beim nächsten Stadtfest gingen wir anders vor: Tabletts mit gut gefüllten Schnapsgläsern gingen rum, die Leute waren begeistert und kauften flaschenweise.““
Heute beliefert Giselher Kühn Naturkostläden, versendet deutschlandweit, hat sogar einen Abnehmer in Helsinki und mit einem Spirituosenladen in Lüchow eine Kooperation. „„Ich mache zwar noch Käse, aber mein Einkommen sichert der Likör.““ Die Herstellung ist allerdings aufwändig. Es wird zentrifugiert, pasteurisiert, für 50 Flaschen geht ein kompletter Arbeitstag für die Produktion drauf. Käse zu machen, nimmt weniger Zeit in Anspruch, auch wenn er zwei Sorten davon herstellt. Einen in Gläser abgefüllten Streichkäse mit Thymian-Oliven-Haube. „“Der nervt mich im Moment, das Stopfen der Gläser. Eine Arbeit für jemanden, der Vater und Mutter erschlagen hat.““ Klagt er jetzt das erste Mal? Ich frage nach Hilfsmittel zum Stopfen. Er will den Käse genau so ausliefern, also muss es manchmal umständlich sein. Wichtig ist ihm, dass es authentisch bleibt. Dass die Produkte, die Produktionsweise, die Lebensweise eine Einheit bilden. Qualität steht ganz oben auf der Liste. Das gilt für alle Lebewesen auf dem Hof. Und es gibt ja auch noch die zweite Käsesorte: schnittfest, ähnlich dem Feta, wird portionsweise vakuumiert, ist weniger Aufwand.

Verarbeitet werden pro Tag etwa zweieinhalb Liter Milch, von Mai bis September, so lange wird gemolken. Die ersten Liter bekommen ausschließlich die Lämmer, die ab April das Licht der Welt erblicken. Nach der Trennung von Lamm und Mutterschaf, nach vier Wochen etwa, erklimmen die Schafe morgens den Melkstand, und die Melkmaschine wird angesetzt. „„Seit 40 Jahren stopfe ich Käse““, sagt Giselher Kühn. So war es, so ist es, und es ist gut so. Sein Lebensmotto? Er führt die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral von Heinrich Böll an. Die zeitlose Fabel des Nobelpreisträgers über einen geschäftstüchtigen Touristen, der im Gespräch mit einem Fischer den Kürzeren zieht und einsieht, dass man auch ohne Karriere zufrieden und glücklich sein kann: Er könnte so reich werden, dass er nicht mehr arbeiten bräuchte und in der Sonne dösen – aber das macht er doch jetzt schon!